Tom Coraghessan Boyle, Drop City (2003)
Der rund 500 Seiten umfassende Roman „Drop City“, übersetzt von Werner Richter, liest sich gut und leicht, er ist eine ideale Lektüre für Bus, Bahn oder Strand. Boyle weiß einen zu fesseln, vor allem durch die Handlung. Dazu später mehr. Aber insgesamt bin ich doch enttäuscht. – Einen Kommentar Richters zu seiner Übersetzung gibt es übrigens hier. (2)
Beginnen wir mit dem Inhalt. Die Wikipedia fasst ihn folgendermaßen zusammen:
Drop City besteht aus zwei sich aufeinander zubewegenden Handlungssträngen, die sich nach ungefähr der Hälfte des Buches vereinen. Der Hauptstrang erzählt die Geschichte der namensgebenden Kommune Drop City in Kalifornien, die etwa 60 Mitglieder umfasst. Jeder Aussteiger ist willkommen, das Leben geprägt von Drogen, Promiskuität und dem Versuch, im Einklang mit der Natur zu leben. Jeder Tag ist eine einzige Party, alles wird miteinander geteilt. Die Männer werden als Freaks und die Frauen als Bräute bezeichnet. Die Gemeinschaft leidet jedoch unter Spannungen aufgrund der ungleichen Verteilung der anfallenden Arbeiten, was zu Hygiene- und Versorgungsproblemen führt. Auch ist die Gruppe untereinander gespalten und nicht alle teilen die friedliebenden Ansätze. Als eines Tages die Zwangsräumung kurz bevorsteht, entschließt sich die Gemeinschaft, nach Alaska zu ziehen, wo ihr Guru Norm Sender ein Grundstück geerbt hat.
Parallel dazu wird die Geschichte des in Alaska sesshaften Trappers Sess Harder erzählt, der seine Traumfrau findet und sie heiratet. In Alaska treffen nun diese zwei unterschiedlichen Gesellschaften aufeinander, es entstehen Konflikte, aber auch Freundschaften. (3)
Die Probleme der Hippie-Kommune, um die es hier geht, sind eher historischer Art. Boyle schrieb das Buch 2003, die Handlung spielt 1970. Dass eine solche Kommune nur unter bestimmten politischen und anderen Rahmenbedingungen funktionieren kann, nämlich einer funktionierenden staatlichen Fürsorge, einer Krankenversicherung, medizinischen Versorgung, Polizei usw. ist sicher jedem klar. Da rennt Boyle mit seiner Kritik an der Naivität der Gruppe heute eine Menge offener Türen ein. Mag sein, dass das in den USA anders gesehen wird.
Auch dass das Hippie-Leben nicht immer so romantisch ist, wie sich das mancher vorgestellt hat, muss man eigentlich nicht mehr belegen. Boyle aber tut das, es wimmelt bei ihm von Dreck, Scheiße, Läusen, nicht gespültem Geschirr usw. Und der Traum vom Leben mit der Natur offenbart sich als Selbsttäuschung:
Es war ein Witz, echt, das war es. Dauernd redeten alle davon, zur Natur zurückzukehren, ins einfache Leben, raus aus der Tretmühle, aber wenn sie innerhalb von 15 Kilometern keinen Supermarkt gehabt hätten, wären sie allesamt längst verhungert.
Interessant ist allerdings die Gegenüberstellung der kalifornischen „Drop Outs“ mit denjenigen in Alaska. Die Kalifornier preisen das Leben in der Gemeinschaft bis hin zur Selbstverleugnung, die Aussteiger in Alaska sind Einzelgänger, die sich höchstens eine Frau suchen gegen ihre Einsamkeit. Am Beispiel der Frauen, Star bei den Hippies und Pamela als neue Frau von Sess, wird schnell klar, dass man in beiden Konstellationen unglücklich werden kann.
Aber was mich in diesem Buch richtig stört, ist der aufdringliche Aktionismus. Es ist wie ein Action-Film, der mich fesseln will durch rasende Autofahrten, Schüsse, Feuer, schnelle Schnitte usw. Bei Boyle passiert unwahrscheinlich viel, es gibt kaum Momente der Ruhe, des Nachdenkens, der Reflexion, andauernd passiert etwas oder man muss fürchten, dass gleich etwas passieren wird. Irgendjemand hat das mal „Zappelprosa“ genannt, und das trifft es ziemlich genau.
Bei Boyle passieren eben auch Dinge nur um der Spannung willen. Wenn ein kleines Kind leblos im Swimmingpool treibt und nur um Haaresbreite wiederbelebt werden kann, wenn Marco sich auf dem nächtlichen Heimweg durch die Eiswüste Alaskas verläuft, wenn es eine Schlägerei gibt, wenn unklar ist, ob eine Verletzung oder Krankheit harmlos bleibt, all das hält den Leser in Bann und setzt ihn permanent unter Strom. Dass eine 14-Jährige vergewaltigt wird, dass kleine Kinder Orangensaft mit LSD bekommen, dass Lydia als Striptänzerin in Alaska arbeitet, dass ein wildes Monster in Alaska die Ziegen reißt, dass Marco und Sess aus dem Flugzeug beschossen werden und man lange nicht weiß, ob sie getroffen wurden – das ist schon ziemlich dick aufgetragen und man fragt sich, obs nicht auch etwas weniger sein dürfte.
Und das alles kann man so weglesen, weil es keine Widerhaken gibt, es ist leichtverdauliche Lektüre, weder intellektuell noch sprachlich wird man gefordert, schon gar nicht überfordert. Tatsächlich kann man bedenkenlos immer wieder mal eine halbe oder ganze Seite überschlagen, ohne dass einem etwas Wesentliches entgeht. Das sagt ja auch eine Menge über den Stil von Boyle aus.
Letzter Punkt: die Sprache. Umgangssprache, häufig vulgär, herrscht vor. Das liegt natürlich daran, dass bei Boyle pausenlos geredet wird bzw. er in seine Personen „hineinschlüpft“, wenn sie nachdenken. Inwieweit die deutsche Übersetzung in dieser Hinsicht dem amerikanischen Original entspricht, vermag ich nicht zu beurteilen. Offensichtlich hatte der Übersetzer Werner Richter nur rund sechs Monate Zeit für seine Arbeit. Aber dass die Länge einer Haarsträhne an einer Leiche „hip“ ist,
wirklich sehr hip, so hip, wie jeder sie sich nur wünschen konnte,
das klingt im Deutschen doch ziemlich merkwürdig.
T. C. Boyle: Drop City. Aus dem Amerikanischen von Werner Richter. München: Hanser Verlag, 2003. Originalausgabe: New York, Viking Penguin, 2003.
(1) Foto: Pixabay.com
(2) Zum Übersetzer vgl. auch: „Der Mann, der uns T.C. Boyle brachte.“
(3) Wikipedia, Artikel „Drop City“