Rühmkorf, In meinen Kopf passen viele Widersprüche

Peter Rühmkorf: In meinen Kopf passen viele Widersprüche (2012)
Den 2008 verstorbenen Peter Rühmkorf habe ich als Lyriker in Erinnerung, als Verfasser von Märchen und natürlich als Sammler so schöner Volks- und Kinderpoesie wie:

Mädchen die die Wimpern pinseln
Mädchen die beim Pimpern winseln
Tragen bis hinauf zur Scheide
Strümpfe rein aus Bemberg Seide (1)

Aber ich schweife ab. Der vorliegende Band versammelt Rezensionen, oft an entlegener Stelle veröffentlicht, und unveröffentlichte Texte aus dem Nachlass. Es geht um Autoren wie Adorno, Bernhard, Frisch, Kafka, Kerner, Klopstock, Thomas Mann, Ringelnatz, Voß, Enzensberger, Handke, Brecht, Arno Schmidt und viele andere mehr, die Rühmkorf kritisiert, lobt oder porträtiert.

Zum Beispiel Ringelnatz. Rühmkorf schaut hinter die Fassade des „lockeren Vogels“ – „ein Meister des Beiläufigen“ sei er – und schätzt seine Kunst sehr:

Eine[r] Kunst, die fähig ist, den kategorischen Imperativ in einen Jux zu verpacken, die die Schwermut im Zustande der Gewichtslosigkeit zeigt und den Trübsinn ganz hell erscheinen läßt. (S. 290)

Kafka charakterisiert er nach der Lektüre von dessen Tagebüchern folgendermaßen:

Eine kristallin und fast schon astral verfaßte Natur, unaufgeregt bis zum tiefsten Grunde menschlichen Nichtigkeitsbewußtseins und in ihrer Krankheit geborgen wie in einem unzerstörbaren Behältnis. (S. 207f.)

Sehr ausführlich, über mehr als zehn Seiten, beschäftigt er sich mit Thomas Mann. Ihm wirft er einerseits „gestelzte Manierlichkeiten“ vor, die „ziemlich allgemein für Stil gehalten werden“ (S. 227). Das bezieht sich offensichtlich auf die großen Romane. Rühmkorf erinnert sich an eine Lesung des „Zauberers“ in Hamburg, wo Mann aus „Felix Krull“ vorlas und „fast affenhaft in den selbstgemachten Ziericht verliebt“ gewesen sei.

Ganz anders seine Einschätzung der Erzählungen, der Novellen und kurzen Prosastücke. Sie zeigten „kompositorischen Geist und einen gewissen strategischen Gesamtheitssinn“ (S. 230). Als Beispiele nennt Rühmkorf  „Ein Glück“, „Das Eisenbahnunglück“, „Der kleine Herr Friedemann“, „Mario und der Zauberer“, „Gladius Dei“ und weitere Stücke:

[I]mmer nimmt der Verfasser seine Fäden schon zu Anfang derart abgefeimt in die Hand, daß ein Eröffnungszug hier und ein Nachkarten dort noch viele Seiten später spürbar sind […]. (S. 230)

Aber er kommt auch darauf zu sprechen, dass in vielen dieser Stücke Thomas Manns noch andere Mächte im Spiel seien, die Triebe nämlich einerseits, die „Eisenklauen der Gewissensmächte“ andererseits. (S. 235) Und wie Rühmkorf das im Einzelnen analysiert, da wird es tatsächlich spannend.


Peter Rühmkorf: In meinen Kopf passen viele Widersprüche. Über Kollegen. Mit Dichterporträts von F.W. Bernstein. Herausgegeben von Susanne Fischer und Stephan Opitz. Göttingen: Wallstein Verlag, 2012.


(1) Aus: Peter Rühmkorf: Über das Volksvermögen. Exkurse in den literarischen Untergrund. Reinbek: Rowohlt, 1967.

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