Thúy, Der Klang der Fremde

Neujahrsfest in Saigon (1)

Kim Thúy, Der Klang der Fremde (2010)
Ein sehr besonderes und empfehlenswertes Buch hat Kim Thúy geschrieben. In sehr kurzen Kapiteln, manche davon nur eine halbe Seite lang, erzählt die erwachsene Nguyen An Tinh (auf deutsch „friedliches Innen“) ihre Geschichte: geboren während der Tet-Offensive Anfang 1968 in Saigon als Tochter wohlhabender und gebildeter Eltern, dann im Alter von zehn Jahren Flucht mit Eltern und Brüdern über das Meer, der Schrecken in einem malaysischen Flüchtlingslager und schließlich die Ankunft in Kanada, empfangen und umsorgt von einer „Armee von Engeln“.  Später kehrt sie für ein paar Jahre nach Vietnam zurück, um dort zu arbeiten.

Sie hält sich dabei nicht an die Chronologie, sondern erzählt eher assoziativ, springt zwischen Zeiten, Orten und Personen hin und her, hangelt sich an einem Wort, einem Motiv entlang von einer Erinnerung zur anderen und schafft so ein wunderbares Mosaik.

Wie sie das tut, ist außergewöhnlich: In sehr poetischen und bildhaften Prosa-Miniaturen mischt sie die Erinnerung an die behütete Kindheit mit dem Schrecken des Krieges, der Flucht, erzählt von Klängen, Farben, Gerüchen und Menschen, von Soldaten, die ihr Geburtshaus besetzt haben, von ihrem autistischen Sohn Henri, ihrer Rückkehr nach Vietnam und vor allem von der großen Familie und von ihrer Mutter. Sinneseindrücke spielen in diesen Erinnerungen eine große Rolle, Blicke, Berührungen, Bilder.

Vor allem der Stil der Autorin, die Haltung, in der sie erzählt, machen das Buch für mich zu etwas ganz Besonderem. Sie erzählt oft grauenhafte Geschichten, aber nie wird sie vorwurfsvoll, nie einseitig oder anklagend. Es geht ihr nicht um Analyse oder Schuld, sie schildert meist sehr zurückhaltend, geradezu teilnahmslos, was sie selbst erlebt oder gehört hat. Es sind Bilder, oft von großer poetischer Kraft, die man so bald nicht wieder vergisst. So erzählt sie von Autofahrten auf verminten Straßen:

Manchmal explodierte eine Mine. Dann musste man stundenlang warten, bis die Soldaten die Löcher zugeschüttet und die menschlichen Überreste eingesammelt hatten. Eines Tages zerriss es eine Frau; rundherum gelbe Gurkenblüten, verstreut und zerfetzt. Wahrscheinlich war sie unterwegs zum Markt gewesen, um sie dort zu verkaufen.

Ohne die gelben Blüten wäre es eine Geschichte von vielen, geradezu alltäglich im Krieg. Aber so, wie Kim Thúy sie hier erzählt, bekommt sie eine völlig andere Dimension.

Oder das 7-jährige Kind, das von feindlichen Soldaten exekutiert wird:

Während sein zarter Körper rücklings zu Boden fiel, gingen die Soldaten kaugummikauend von dannen.

Andere würden daraus eine eigene Geschichte machen, einen ganzen Roman. Thúy benötigt gerade diesen einen Satz, um den Schrecken des Krieges zu evozieren. Und gerade die scheinbare Ungerührtheit der Erzählerin gibt der Schilderung eine emotionale Tiefe, die umso erschütternder wirkt.

Sie erinnert sich auch an eine alte Frau, „die nahe dem Grab meines Großvaters im Mekongdelta lebte“:

Ihr Rücken war krumm, so krumm, dass sie rückwärts treppab gehen musste, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren und kopfüber hinunterzupurzeln. Wie viele Reiskörner hatte sie wohl gepflanzt? Wie lange hatten ihre Füße wohl im Schlamm gewatet? […] Wie viele Träume hatte sie begraben, dass sie dreißig, vierzig Jahre später so gebeugt war?

Eines der schönsten Bücher, die ich in letzter Zeit gelesen habe. Danke an Stefan von „Schwarzaufweiß“ für den Tipp!


Kim Thúy: Der Klang der Fremde. Aus dem Französischen von Andrea Alvermann und Brigitte Große. München: Verlag Antje Kunstmann. 2010.
Erstveröffentlichung: Montréal: Libre Expression, 2009.


Anmerkungen und Links
(1) Foto: falco. https://pixabay.com/de/vietnam-saigon-ho-chi-minh-city
(2) Eine Leseprobe (plus den französischsprachigen Originaltext) gibt’s hier.
(3) Interview mit Kim Thúy über „Der Klang der Fremde“ (YouTube)

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