Echenoz, 14

Fritz Fuhrken: Im Granatfeuer (1919) (1)

Jean Echenoz, 14 (2014)
Ein weiteres bemerkenswertes Buch – weil es vorzüglich geschrieben ist und einen sehr eigenen, fast schon provokanten Stil hat. Aber der Reihe nach.

Der Roman, 2012 in Frankreich erschienen und von Hinrich Schmidt-Henkel ins Deutsche übersetzt, (2) ist mit seinen 120 Seiten denkbar schmal und handelt vom Ersten Weltkrieg. Schon das ist ein kleines Wunder angesichts all der Riesenwerke, die sonst von diesem Krieg handeln, Karl Kraus‘ „Die letzten Tage der Menschheit“ etwa. Und das funktioniert in dieser Kürze auch nur, weil Jean Echenoz, geb. 1947, ein wahrer Meister der Verdichtung und der Aussparung ist.

Echonoz erzählt vom Aufbruch einiger Kleinstädter aus der Vendée in ein Abenteuer, das eine willkommene Abwechslung in ihrem Alltag darstellt und zunächst eher amüsant aussieht, „eine Sache von zwei Wochen, höchstens“, wie einer von ihnen meint. (S. 12) Hauptfiguren sind der Buchhalter Anthime, der Metzgergeselle Padioleau, der Abdecker Bossis, der Sattler Arcenel und der arrogante Vizefabrikdirektor Charles. Erst viel später erfährt man, dass Charles und Anthime Brüder sind. Aus ihrem kleinen französischen Ort verschlägt es sie hinaus auf die Schlachtfelder der Ardennen und anderswo.

Sie alle nehmen die Mobilmachung wie ein Schicksal hin, sie reflektieren nicht, sie protestieren nicht, sondern sie tun, was die Obrigkeit von ihnen verlangt. Und das in gelöster, heiterer Stimmung.

Der Erzähler, allwissend, wie er ist, macht aber schon ganz früh und ganz beiläufig klar, dass sie einer schrecklichen Täuschung erliegen und Tod und Schrecken sie erwarten. Die jungen Rekruten werden eingekleidet, die Uniformen passen nicht immer, alles ist in Eile und schon in der Kleiderkammer zeigen sich die Unterschiede zwischen ihnen. Der arrogante Charles beschwert sich über seine schlechtsitzende Uniform, und so müssen die Freunde Teile ihrer Uniform mit ihm tauschen:

Padioleau wurde dank dieses Verfahrens verwirrt von seinem Mantel umflattert, während Bossis sich in der Zeit, die ihm noch zu leben blieb, nicht mehr an diese Hose gewöhnen würde.

Mit solch beiläufigen Bemerkungen deutet Echenoz früh den grausigen Ernst der Lage an. Der Leser weiß mehr als die Figuren und sieht sie ahnungslos in ihr Verderben laufen. So banal können Kriege beginnen.

Häufig richtet der Erzähler seinen Blick auf scheinbar nebensächliche Details, so zählt er präzise den Inhalt eines Tornisters auf, den jeder Soldat zu tragen hat. Er beschreibt aber auch einen der ersten Luftkämpfe, dem prompt der Erste der Freunde zum Opfer fällt, ausgerechnet der verhasste Charles, der nur über Beziehungen zur vermeintlich ungefährlicheren Fliegerei gekommen war.

Auch die eher skurrilen Seiten des militärischen Alltags lässt Echenoz nicht aus. Die zunächst als Kopfschutz verwendeten „Hirnpfannen“ sind völlig unpraktisch und werden zum Kochen verwendet, die später gelieferten Schutzhelme reflektieren das Sonnenlicht und machen die Soldaten zu „attraktiven Zielscheiben“.

Und immer wieder kontrastiert der Erzähler die Idylle der Natur wie den ersten Schneefall und die banalen Gespräche der Soldaten mit dem einbrechenden Horror. Padioleau philosophiert gerade über sein Bauchweh:

Just in diesem Moment landete ein besser gezieltes 105er Kaliber […] in ihrem Schützengraben: Das Geschoss zerriss zuerst die Ordonnanz des Hauptmanns in sechs Stücke, dann enthaupteten ein paar seiner Splitter einen Verbindungsoffizier, […] zerhackten mehrere Soldaten in verschiedenen Winkeln […]. (S. 81)

Der Erzähler bleibt kühl und distanziert, immer wieder aber bricht seine Ironie durch:

All das ist schon tausendfach beschrieben worden, vielleicht lohnt es gar nicht weiter, sich bei dieser stumpfsinnigen, stinkenden Oper aufzuhalten. […] [S]chon gar nicht, wenn man kein besonderer Freund der Oper ist, obgleich der Krieg wie sie gewaltig ist, atemraubend, exzessiv […]. (S. 78)

Das ist natürlich ein ziemlich provokanter Vergleich und er offenbart eine ungewöhnliche emotionale Distanz, um nicht zu sagen: Gefühlskälte – nicht nur an dieser, sondern auch an einigen anderen Stellen. Eine Oper ist ein Spiel, ohne Tote, und sie soll unterhalten. Das ist mit einem Krieg nun ganz und gar nicht zu vergleichen. Was also will Echenoz damit sagen? Dass mit der zeitlichen Distanz auch die emotionale einhergeht?

Überhaupt wird der Erste Weltkrieg hier eher exemplarisch abgehandelt – nie wird gesagt, wer eigentlich der Feind und wer der Angreifer ist und was die Gründe für den Krieg sind usw. Es gibt keine Guten und keine Bösen, jeder tut nur, was er tun muss, selbst wenns zum Tode führt. Vieles bleibt im Dunkeln, weil es offensichtlich unwichtig ist. Die Hauptpersonen ihrerseits haben bei aller eher äußerlichen Individualität Eines gemeinsam: Sie wirken wie Spielfiguren, wie an Fäden gezogen, ahnungslos, willenlos, ohne Reflexion und Verstand. Und so ziehen sie wie in Trance ihrem Untergang entgegen, wie der Spaziergänger Arcenel, der gedankenlos im Wald vor sich hinschlendert und deshalb wegen Desertion exekutiert wird.

Diese Darstellung mitsamt der kühl-ironischen Haltung des Erzählers macht diesen kurzen Roman für mich so ungewöhnlich. Es ist eine Schilderung des 1. Weltkrieges, wie ich sie noch nicht gelesen habe.


Jean Echenoz: 14. München: Carl Hanser Verlag, 2014. Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Erstveröffentlichung: Paris: Les Éditions de Minuit, 2012.


(1) Foto: Wikipedia

(2) Siehe auch die Bemerkungen des Übersetzers: Schmidt-Henkel über Echenoz

(3) Interview mit Jean Echenoz

(4) Weitere Rezensionen bei Sophie (Literaturen) und bei Petra (Gute Literatur)

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