Kempowski, Uns geht’s ja noch gold

Rostock: Blick vom Blücherplatz in die Blutstraße (ca. 1933)

Walter Kempowski, Uns geht’s ja noch gold (1972)
Um Walter Kempowski (1929–2007) habe ich lange einen Bogen gemacht, obwohl er in meiner Heimat lebte. Ich hielt ihn für bieder, spießig, konservativ, arrogant – so, wie ich ihn aus einem Fernseh-Interview in Erinnerung hatte (1). Gelesen aber hatte ich nie etwas von ihm, umso mehr über ihn, ein klassisches Vorurteil also. Auch in den literarischen Blogs, ich habe gerade nochmal recherchiert, existiert er merkwürdigerweise so gut wie gar nicht.

Dann habe ich irgendwann erfahren, dass er – was mich völlig überraschte – Rolf Dieter Brinkmann schätzte, Arno Schmidt, Dos Passos, Robert Gernhardt, dass er 1968 das Auftreten von Teufel und Langhans in Deutschland als „wohltuend“ empfand, und ich habe ihn zuletzt bei Gerhard Henschel gefunden, in dessen Martin-Schlosser-Romanen er auftaucht, ja, Martin Schlosser nimmt sogar an den legendären Literatur-Seminaren teil, die Kempowski in Nartum veranstaltet. Wie passt das Alles zusammen?

Also ein Versuch. Und zwar mit einem der frühen Romane: „Uns geht’s ja noch gold“, dem Band 5 von 9 aus der „Deutschen Chronik“ (Zählung nach Wikipedia), erschienen 1972.

Der Roman ist, wie viele Romane Kempowskis, stark autobiografisch geprägt und hat dokumentarischen Charakter. Er schildert das Schicksal einer Rostocker Reedereifamilie am Ende des 2. Weltkrieges und beginnt 1945, als die Rote Armee in Rostock einmarschiert. Der junge Walter ist etwa 16 Jahre alt, er ist der Ich-Erzähler:

Aus allen Häusern hingen weiße Fahnen. Als ob das alles Bunker wären, die kapitulierten. […] An der Ecke hielt ein Motorrad mit Russen.

Kempowski schreibt in einem collage-artigen Stil, einer Abfolge unverbundener Absätze, die scheinbar emotionslos aneinandergereiht werden und dem Leser viel Platz für die eigene Interpretation lassen. Der Titel, das stellt sich schnell heraus, ist eher ironisch zu verstehen, denn „gold“ geht’s der Familie überhaupt nicht.

Fast alle Bereiche des damaligen Lebens kommen vor, mit beeindruckend vielen Details: Ernährung, Schwarzmarkt, Witze, Rezepte, Politik, Suizide, Vergewaltigungen, Gassenhauer, Kinderreime, Hamsterkäufe, Nürnberger Prozeß, Sexualität, Abtreibungen, Plünderungen, Erschießungen, Musik, Umsiedler, Kino, Wochenschauen, die Besatzungszonen, Werbung, die Vorführung von Filmen über die befreiten KZs, auch Obzönes wird dokumentiert: Bei einem Bekannten sehen sie ein Bild an der Wand: „ein Cunnilingus, überlebensgroß, halb mit einem Hemdchen verhängt.“

Und gerade diese unglaublich vielen Collageschnipsel lassen ein umfassendes und anschauliches Bild entstehen – wie ein riesiges Mosaik, hinter dem man gelegentlich noch die Zettelkästen ahnt, mit denen Kempowski gern gearbeitet hat, um der Menge des Stoffes Herr zu werden.

Einmal wird die Frau eines amerikanischen „Base Commanders“ erwähnt. Sie

wusch das Brot zu Hause mit Wasser und Seife, weil die Deutschen es angefaßt hatten.

Ein Nachbar in Rostock erzählt vom brutalen Vorgehen der Besatzer:

Und die kleine Helga Witte, dieses blitzgescheite Mädel: hingestreckt! ‚Ich seh‘ sie noch, so blanke, klare Augen… Mit einem Hammer erschlagen.‘ ‚Und so krisseliges Haar, so krissel-krauses Haar.‘ Er habe gehört, es seien Polen gewesen.

Auch Jugendliche werden nicht verschont, in diesem Fall der Ich-Erzähler selbst:

Einer knöpfte seine Pistole aus dem Holzfutteral und hielt sie mir vor die Nase. ‚Nun los, Schnaps holen!‘ Das war vermutlich ein Weißrusse. […]
 Hier seien ja so viel Flaschen, wenn ich keinen Schnaps fände, dann würde ich erschossen.
Ob im Wald, ob in der Klause,
Dr. Krauses Sonnenbrause!

Die überraschende Verknüpfung mit dem Reklameslogan, ein typisches Stilelement bei Kempowski, erläutert der Erzähler nicht, der Leser muss sich selbst einen Reim darauf machen. Offen bleibt auch, ob es sich bei der Drohung um einen Scherz handeln könnte. Überhaupt ist Kempowskis Erzählweise durchaus unkonventionell und ganz und gar nicht so beschaulich-biedermeierlich, wie ich mir das vorgestellt hatte.

Walter macht sich dann illegalerweise auf in die amerikanische Besatzungszone, weil das Leben dort besser sein soll. In der Tasche versteckt er Frachtbriefe über Reparations- und Demontagegüter, die ihm sein Bruder anvertraut hat. Sie sollen den Amerikanern in Wiesbaden beweisen, „was die Russen heimlich alles herausholen aus der Ostzone“. Nach der Übergabe der Papiere arbeitet er in einem PX-Store der US-Armee und kehrt für kurze Zeit, wie er meint, nach Rostock zurück.

Dann kommt das überraschende Ende des Romans. Kaum angekommen in seiner Heimatstadt und in völliger Verkennung der drohenden Katastrophe erzählt er ganz unbeschwert:

Im Morgengrauen holten sie mich aus dem Bett. Zwei trugen Lederjacken. Da hast du was zu melden, wenn du wieder rüberkommst, dachte ich.

Politisch lässt sich der Roman nicht eindeutig zuordnen, es gibt Kritik an der sowjetischen und an der amerikanischen Besatzung, an den Nazis, an den „Bonzen“ des Sozialismus in Berlin, aber auch verharmlosende Bemerkungen über den Holocaust usw. Und immer sind es Figuren des Romans, die das äußern, ohne dass der scheinbar naive Erzähler, eben ein Jugendlicher, eingreift, widerspricht oder kommentiert. Das hat man Kempowski damals ziemlich übelgenommen, diese fehlende offene Parteinahme. Oder man hat es ihm direkt als Sympathie für die falsche Seite ausgelegt. Aber man sollte diese moderne Erzählweise besser als Kompliment an den mündigen Leser begreifen, dem zugetraut wird, seine eigenen Schlüsse zu ziehen und die Wertung selbst vorzunehmen.

Das Buch liest sich gut, manchmal witzig, manchmal vulgär, aber zwangsläufig oft sehr bedrückend. Wer wissen will, wie das damals war, bei Kriegsende, der sollte es lesen. So anschaulich, so detail- und facettenreich, aber auch so unterhaltsam habe ich über diese Zeit, über diese Ereignisse noch nicht gelesen. Und ich werde jetzt mehr von Kempowski lesen.


Walter Kempowski: Uns geht’s ja noch gold. München: dtv, 1975.
Erstveröffentlichung 1972.


Anmerkungen und Links

(1) Interview mit Kempowski über die Rechtschreibreform (YouTube; ab Min. 1:45)

(2) Über Kempowskis „Haus Kreihenhoop“ in Nartum (ARD-Mediathek)

(3) Wer mehr über das fatale Image wissen möchte, das vor allem die Medien und die Literaturwissenschaft Kempowski zugeschrieben haben, an dem er selbst aber nicht ganz unbeteiligt war, sollte einen Blick in Henschels aufschlussreiches Buch werfen: Gerhard Henschel: Da mal nachhaken: Näheres über Walter Kempowski. München: dtv, 2009. Meine Besprechung siehe hier.

 

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