Hildesheimer, 1956 – ein Pilzjahr

Wolfgang Hildesheimer, 1956 – ein Pilzjahr (1951)
Eine der schönsten und amüsantesten Geschichten Wolfgang Hildesheimers aus den 1952 erschienenen „Lieblosen Legenden“ ist diese über den großen Gottlieb Theodor Pilz (1789–1856). Pilz kann man mit der Steinlaus Loriots vergleichen, wie sie hat auch Pilz in manch seriösem Lexikon einen fingierten Eintrag erhalten, obwohl es ihn nie gegeben hat. Der Text ist eine Satire auf den Kulturbetrieb und eine Parodie auf Künstlerbiografien, geschrieben in einem leichtfüßig eleganten Stil, der so modern wirkt, dass man ihn spontan nicht auf den Beginn der 50er Jahre datieren würde.

Pilz, der heute weit unterschätzt sei, war nämlich

weniger ein Schöpfer als ein Dämpfer. Sein Beitrag zur Geschichte der abendländischen Kultur kommt in der Nichtexistenz von Werken zum Ausdruck, Werken, die durch sein mutiges, opferbereites Dazwischentreten niemals entstanden sind.

Pilz war also ein Verhinderer, einer, der als gebildeter Mensch in vielen Kreisen verkehrte und den Leuten Ideen und Projekte ausredete. Das ist die Grundidee Hildesheimers.  Er schreibt über das Leben von Pilz wie über einen tatsächlichen, großen Künstler, einschließlich der unentbehrlichen Fußnoten, die scheinbar wichtige biografische Details belegen sollen. Nichts ist unwichtig genug, und sei es ein Brief Pilz‘ an seine Mutter, in dem er um Zusendung von Kleidung bittet, weil es abends so kühl in Italien sei. Nur dass Pilz eben keine Kunstwerke geschaffen, sondern dankenswerterweise verhindert hat.

Schon als kleiner Junge stiebitzt Pilz dem kurzsichtigen Klopstock bei einer Lesung etliche von dessen noch ungedruckten Oden, ohne dass der es jemals bemerkt hätte. Dem Turnvater Jahn redet er später den Plan zu einem gigantischen Dramenzyklus über den Freiheitskampf der Germanen aus und überzeugt ihn stattdessen von einer Laufbahn im sportlichen Bereich, mit der Jahn dann berühmt wird. Sogar der Name des „Turnvaters“ gehe auf eine Anregung von Pilz zurück.

Für Beethovens unproduktive Phase 1814 bis 1818 sei wohl ebenfalls Pilz verantwortlich, der sich damals in Wien aufhielt. Er versucht Meyerbeer „das dauernde Opern-Komponieren abzugewöhnen“ und überredet Rossini erfolgreich, sich mehr der Gastronomie zu widmen. Schumann und Mendelssohn bringt er dazu, nicht mehr als vier Symphonien zu schreiben:

Wie viel ist uns durch ihn, den Großen, Einzigen erspart geblieben! Zu früh ist er gestorben, und wir können nicht umhin, festzustellen, daß auch heute ein Pilz am Platze wäre.


Wolfgang Hildesheimer: Lieblose Legenden. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1962. Überarbeitete und erweiterte Ausgabe des 1952 erschienenen  Bandes.


 

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