Hurley, Loney

Andrew Michael Hurley, Loney (2016)
Die Nachricht von einem Erdrutsch und die dabei zum Vorschein gekommene Leiche eines Babys, das vor vielen Jahren erschossen wurde: das ist der Ausgangspunkt dieser Geschichte. Ein wenig glaubwürdiger Ich-Erzähler erzählt sie – erst gegen Ende des Buches erfährt man, dass er in psychologischer Behandlung ist und der Arzt ihn für einen „typischen Fantasten“ hält. Man weiß also nicht, ob und was man ihm glauben kann – ein unzuverlässiger Erzähler, das kennen wir spätestens seit Nabokov. Aber auch sonst bleibt vieles im Dunkeln und der Leser auf Vermutungen angewiesen.

In aller Kürze: für mich leider eine Enttäuschung, obwohl das Buch gut geschrieben ist. Über Handlung und Inhalt muss ich hier nicht reden, das findet man z.B. hier oder hier. Auch am Schluss weiß man wenig mehr über diese Babyleiche, nur dass Hauptfiguren des Buches, einschließlich des Ich-Erzählers selbst, als Täter infrage kommen. Nichts Genaues weiß man nicht, am Ende ist man so schlau als wie zuvor.

Nun ist das natürlich auch im wirklichen Leben häufiger so, dass man nix Genaues weiß. Aber hier will man es eigentlich gar nicht genauer wissen, weil die Charaktere dieser Wallfahrt ins Grauen kein Interesse wecken. Sie sind durchweg unlebendig und farblos, sie verkörpern Klischees und werden erst gegen Ende etwas lebendiger (der sadistische Pfarrer, die unheimlichen Dorfbewohner, die zwanghafte religiöse Mutter usw.).

Der Horror drumherum — als ob ein erschossenes Baby nicht schon Horror genug wäre — ist dick, zu dick aufgetragen, mit Allem, was zum Horror eben so dazugehört: ein abgelegener Ort, eine unheimliche Natur, der in der Psychiatrie geendete Vormieter des Hauses (ein Tierpräparator), ein bigotter Pfarrer, der einen Knaben wegen vermeintlicher Onanie auf sadistische Weise bestraft, Aberglaube, zwanghafte Rituale, das Haus, um das herum der Pfarrer 14 Holzkreuze errichtet, Waffen, ein Geheimzimmer, feindselige Dorfbewohner und vieles mehr. Versatzstücke des Grauens aus der Gattung des Schauerromans, die man zu kennen meint und die den Leser hier verstimmen. Das zum Einen.

Wenn da nicht der Stil und die Sprache wären. Das alles ist nämlich gut konstruiert und gut geschrieben, um nicht zu sagen: vorzüglich; manche Szenen, wie den Gang hinunter zum „Schrein“, vergisst man so schnell nicht wieder:

Hundert Meter weiter endete der Pfad. Mummer blieb stehen und zog ein paar der Äste und Blätter auseinander, um an den Griff eines kleines Eisentors zu kommen. […]
Alle verstummten und traten durch das Rhododendron-Gewirr, bis wir vor einer Reihe von Steinstufen angelangt waren, die feucht und schwarz vom Moos zu der Stelle hinunterführten, an der das Wasser an die Oberfläche sprudelte und durch eine kleine Falltür im Boden erreicht werden konnte.

Yasemin Dinçer hat den Roman farbenreich und sprachlich reizvoll ins Deutsche übersetzt.  Hier schildert sie übrigens ihre „Reise ins Loney-Land“ und die Begegnung mit dem Autor.


Andrew Michael Hurley: Loney. Aus dem Englischen übersetzt von Yasemin Dinçer. Berlin: Ullstein, 2016. Erstveröffentlichung: Leyburn, Yorkshire, UK: Tartarus Press, 2014.


Anmerkungen und Links
(1) Leseprobe
(2) Eine weitere Besprechung bei aus.gelesen.

 


Schreib einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert