Volker Kutscher, Moabit (2017)
Eigentlich mag ich keine Krimis. Und ich kenne auch nicht viele. Aber diesen hier habe ich gelesen. Ich musste ihn lesen, weil mein Lesekreis sich darauf geeinigt hatte. Ich hätte es besser nicht getan.
Nach welchen Kriterien beurteilt man einen Krimi? Für mich muss die Geschichte plausibel und irgendwie originell oder besonders sein. Und sei es nur, dass sie auf besondere Art erzählt wird. Dann müssen die Charaktere glaubwürdig und lebendig sein, reale Menschen, reale Konflikte, keine Schablonen. Und last but not least: die Sprache. Sie sollte einen Wert, einen Reiz an sich haben und nicht nur schnödes Mittel zum Zweck sein. Die schönen Illustrationen von Kat Menschik lasse ich hier außer Acht, mir geht es um den Text allein.
Punkt 1: die Handlung. Wir sind in Berlin im Jahre 1927. Ein Verbrecherkönig der Berliner Unterwelt namens Adolf Winkler, Chef des Ringvereins „Berolina“, sitzt im Knast. Die „Berolina“ lebt von „sauberen Brüchen“ und Schutzgelderpressung. Nur wenige Tage vor seiner Entlassung in die Freiheit gibt es einen Mordanschlag auf ihn, den er nur mit Glück überlebt. Einer der wenigen nicht korrupten Wärter namens Christian Ritter rettet ihm das Leben. Der Angreifer selbst stirbt ein paar Tage später unter ungeklärten Umständen auf der Krankenstation. Als Ritter und Winkler sich später in einer Kneipe verabreden, stellt sich das als Falle heraus. Aber ich will hier nicht alles verraten.
Der Autor Volker Kutscher hat die Erzählung in drei Abschnitte unterteilt, die das Geschehen jeweils aus der Perspektive einer Hauptfigur schildern. Zunächst aus der von Winkler, dem Berufsverbrecher, der sich nicht mehr ändern wird, wie es heißt, dann aus der des korrekten preußischen Oberaufsehers Ritter, eines vorbildlichen Familienvaters. Und zuguterletzt aus der von Ritters 19-jähriger Tochter Charlotte, genannt Lotte. Sie ist strebsam, hat gerade das Abitur gemacht, möchte studieren und sucht eine Arbeit. Tagsüber ist sie die brave Tochter, nachts sucht sie ohne Wissen ihrer Eltern das Tanzvergnügen. Das liest sich klischeehaft, und leider ist es das auch.
Mal ganz abgesehen von der problematischen Konstruktion. Winkler und Ritter erzählen jeweils aus der Ich-Perspektive, und zwar exakt bis zum Zeitpunkt ihres Todes. Wie geht das, mal rein logisch gefragt? Wie soll ich mir das als Leser vorstellen? Fragen über Fragen. Herr Kutscher, übernehmen Sie!
Damit sind wir bei Punkt 2, den Figuren: der böse Berufsverbrecher, der ehrbare Familienvater, die strebsame, kluge Tochter, die unscheinbare Mutter, der ermittelnde Kommissar Böhm – „brummig“, aber gutherzig. Leider völlig uninteressante, um nicht zu sagen: langweilige Charaktere, weil sie aus Papier sind, mit der Schablone entworfen. Sie haben eben nur diese ein, zwei Eigenschaften und das macht sie nicht lebendig. Man kann sie nicht ernstnehmen. Der vorbildliche Papa bringt jeden Abend vom Dienst die „Orga“ mit nach Hause, die Schreibmaschine, auf der seine Tochter das Tippen üben kann:
Ist es denn so schwer zu verstehen, dass ich meine ganze Hoffnung auf unser einziges Kind setze? Setzen muss? Wo es doch an ein Wunder grenzt, dass wir nach Friedrichs Tod überhaupt noch ein Kind bekommen haben? Ist es da nicht meine Pflicht, diesem Kind eine bessere Zukunft zu ermöglichen? Auch wenn es nur ein Mädchen ist? (S. 37)
Lotte wiederum grämt sich wegen ihrer heimlichen Tanzleidenschaft:
Das schlechte Gewissen nagt an ihr. Irgendwann muss sie ihren Eltern erzählen, dass sie ab und zu tanzen geht. Aber das kann sie erst, wenn sie endlich, endlich ihr eigenes Geld verdient. Sie kann ihnen doch nicht sagen, dass sie sich von einem reichen Mädchen aushalten lässt. (S. 67)
Schon sehr süß, klar! – Aber natürlich Klischee auf Klischee, dicht an der Grenze zum Groschenroman. Oder nein: Es ist schon drüber, es ist tatsächlich ziemlicher Kitsch, wie ich finde. Noch mehr geht ja gar nicht. Und von solchen Stellen gibt es etliche im Buch.
Dazu kommen Dinge, die nicht zusammenpassen. Der pflichtbewusste Kommissar legt großen Wert auf Diskretion und betont Lotte gegenüber die unbedingte Schweigepflicht für alle Mitarbeiter der Mordkommission. Er selbst aber plaudert ungeniert vor der ganzen Familie Ritter über Interna der Ermittlungen und verrät so der ahnungslosen Tochter Details über den Kriminalfall, in den ihr Vater verwickelt ist.
Und dass Lotte danach eines Nachts auf dem Nachhauseweg ausgerechnet vor dem Gefängnis ausgerechnet zwei Aufseher beobachtet, die Verdächtiges tun – was für ein Zufall! Mit Papa kann sie darüber natürlich nicht reden, denn der erführe ja dann, dass sie nachts tanzen war. Naja.
Punkt 3: die Sprache. Eigentlich das, was mich am meisten gestört hat. Die Geschichte spielt vor fast 100 Jahren, aber der Wortschatz der Figuren, ihre Redensarten, ihre Denkweise sind von heute. Das ist natürlich ein grundsätzliches Problem von historischen Romanen, dass sie das Reden und Denken von heute oft ganz naiv in die Vergangenheit projizieren. Aber solche Formulierungen wie „Machen Sie sich keinen Kopf“ oder „Wie gut sich das anfühlt“ sind Redensarten von heute, die einfach nicht in die Zwanzigerjahre gehören. Soviel Sprachbewusstsein sollte man von einem Autor erwarten dürfen.
Nächster Punkt: Sprache und Wortschatz sollten zu Figur und Milieu passen. Wenn der Obergangster Winkler, Chef des Ringvereins „Berolina“, vom „Nimbus deiner Unantastbarkeit“ spricht oder von „unverhohlenem Stolz“, dann macht das die Figur nicht glaubwürdiger. So redet doch kein Berufsverbrecher aus dem Milieu. Jedenfalls keiner, den ich kenne. 🙂
Damit kommen wir zum vorletzten Punkt. Es wird so gut wie nicht berlinert in der ganzen Geschichte – selbst Winkler spricht, wie seine Kumpels, ein ziemlich korrektes Hochdeutsch –, und dabei befinden wir uns mitten im Verbrechermilieu der Zwanzigerjahre in den Arbeiterbezirken Wedding und Moabit. Wo, wenn nicht hier, hat man damals wohl berlinert? Man schaue zum Vergleich nur mal in Döblins „Berlin Alexanderplatz“ von 1929, was da so abgeht. Nicht dass ich den Berliner Jargon so mag, aber wenn ein Autor sich diese Zeit und dieses Milieu für seine Geschichte wählt, geht’s nun wirklich nicht ohne.
Überhaupt sind die Zwanzigerjahre hier leider nur eine ziemlich dünne Pappkulisse, alles Historische ist ohne echte Funktion und letztlich austauschbar, das Geschehen könnte, bis auf ein paar kleine Änderungen, genausogut einem Krimi der Gegenwart entsprungen sein. Nur dass der „Ring-Verein“ heute „Mafia“ heißen würde.
Ich weiß schon, warum ich Krimis nicht mag. Schade.
Volker Kutscher: Moabit. Illustriert von Kat Menschik. Berlin: Galiani, 2017.