Raoul Schrott, Die Fünfte Welt. Logbuch (2007)
Ende 2005 bricht in N’Djamena, Hauptstadt des Tschad, eine Expedition nach Nordosten auf, zu einem der „letzten weißen Flecken der Erde“. Hauptziel: das Erdi Ma, ein Felsplateau im Länderdreieck von Tschad, Libyen und Sudan. (2)
Der Kölner Saharaforscher Stefan Kröpelin leitet diese Expedition und der Schriftsteller Raoul Schrott schließt sich ihr an. Sein „Logbuch“ ist ein Resultat der Reise. Außerdem dabei: ein Kamerateam des ZDF, ein Fernerkundler, ein Botaniker, eine Ethnologin, die Fahrer, ein Küchengehilfe und ein offizieller Begleiter im Auftrag der tschadischen Regierung – rund ein Dutzend Teilnehmer also. Von Anfang an gibt es zwar Warnungen vor Banditen, Rebellen und Minen im Zielgebiet, aber die Gruppe hat viel Glück: Es wird nichts passieren.
Das „Logbuch“ besteht aus drei Teilen. Teil I schildert den Aufbruch von N’Djamena über Abeché und das Archei-Guelta bis zur Oase Fada, Teil II, der Hauptteil, behandelt die Fahrt durch das Ennedi-Massiv, „eine der schönsten Landschaften dieser Erde“, hin zum Erdi Ma nahe der libyschen Grenze und zurück nach N’Djamena. Er ist mit rund 30 Seiten leider, wie ich finde, etwas kurz geraten. Teil III schließlich enthält den Anhang mit Materialien wie Fotos und Karten.
Schrott hält die Reise in kurzen Kapiteln fest und beschreibt ein Gebiet, das im westlichen Kulturraum kaum bekannt ist. Er unterscheidet dabei die Vierte von einer Fünften Welt:
Die Kulisse von Zivilisation hört noch vor der Stadtgrenze [von N’Djamena] auf und geht über in jene Vierte Welt von Nomaden, die scheinbar unabhängig von ihr existiert und erst die eigentliche Bevölkerung ausmacht. An ihrem Rand aber liegt noch eine ganz andere [Fünfte] Welt: jener Rest an Unbekanntem, der der Erde heute noch geblieben ist – einer der letzten weißen Flecken in ihrem Atlas, […] mitten im unzugänglichsten Teil der Sahara. (S. 75)
Doch auch diese „weißen Flecken“ auf der Karte sind kein unberührtes Terrain, auch hier haben Menschen gelebt, bis die Wüste sich ausdehnte und das Leben unmöglich machte. Und selbst aus neuerer Zeit finden sich Reifenspuren. Die Expedition stößt auf Relikte von Ozeanen und Seen, auf Felsmalereien aus Alt- und Jungsteinzeit, Darstellungen von Tieren, Tierknochen usw. Rund um das Erdi Ma wird Schrotts „Logbuch“ dann immer wieder solche menschlichen Spuren notieren, die zum Teil Jahrtausende überdauert haben und aus einer Zeit stammen, als die Ostsahara noch Grasland war und einer der Ausgangspunkte der Zivilisation:
[N]icht das Zweistromland und auch nicht das Niltal waren die Wiege der Zivilisation, sondern diese ehemaligen Savannen hier, die mit ihren wiederholten Dürrephasen auch die Wanderbewegungen des Homo sapiens nach Europa mit auslösten und zuletzt zur Besiedelung des Nil und zum Beginn der pharaonischen Reiche geführt hatten. (S. 111)
Sehr aufschlussreich sind übrigens die Bemerkungen über den Film, den das ZDF über die Expedition gedreht hat. (3) Raoul Schrott weist darauf hin, dass die Reise darin kaum wiederzuerkennen sei, denn der Regisseur habe schon vor dem Aufbruch in die unbekannte Welt ein festes Drehbuch gehabt:
voller vorgeschriebener Lagerfeuerszenen, Dünenüberquerungen und den Klischees einer Wüstenreportage. (S. 96)
„Die Fünfte Welt“ ist zudem ein Buch über den Tschad und dessen Bevölkerung, über die politische Situation und die Darfurkrise, räumt aber vor allem mit der Vorstellung auf, dass „weiße Flecken“ auf der Landkarte frei von jeder menschlicher Besiedlung seien und die Sahara nur ein großes, leeres Nichts. Auch sei heute, wo man in der Wüste per GPS navigiere, sich nicht mehr verirren könne und auf Knopfdruck per Satellitenhandy mit dem Rest der Welt in Verbindung stehe, die Erforschung des Unbekannten
eine vollkommen andere Welterfahrung, in der das Unbestimmbare ebensowenig noch einen Ort hat wie das Unerreichbare. […] Was dabei verlorengeht, ist das Maß des unmittelbar Menschlichen. (S. 130)
Abschließend noch ein Wort zum Untertitel, zum „Logbuch“. Ein Logbuch enthält in sachlicher Form wichtige und präzise Informationen über eine Fahrt, mit exakten Orts- und Zeitangaben usw. Auch eine Namensliste der Teilnehmer würde man erwarten oder Angaben zur Dauer der Expedition. Das alles liefert Schrott nicht, was zeigt, dass es ihm eher um die Fiktion eines Logbuchs geht, um die Metapher als solche, die das Literarisch-Poetische oder tatsächlich Fiktive in seinem Buch verschleiert. Hier vermischen sich Realität und Fiktion zur Literatur. Trotzdem hätte man natürlich gerne gewusst, wie lang die aufreibende Fahrt durch die Wüste und zurück denn nun gedauert hat.
Raoul Schrott: Die Fünfte Welt. Logbuch. In: R. S.: Khamsin. Die Fünfte Welt. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch, 2010. S. 67–192.
Erstveröffentlichung: Innsbruck und Wien: Haymon Verlag, 2007.
Links
(1) Foto: Pixabay.com
(2) Karte des Tschad in der englischen Wikipedia
(3) Sahara. Aufbruch ins Ungewisse (Video)
(4) Westsahara – Die vergessene Wüste (Video)
(5) Bericht der Uni Köln (mit Bildern)
(6) Foto des Expeditionsteams
(7) Zeitungsbericht des Kölner Express vom 15.04.2006